Die Herbstferien geben mir die Möglichkeit, mein bisheriges Highlight meines Schuljahres Revue passieren zu lassen. Was mache ich in den letzten Tagen meiner Sommerferien, statt am Badesee zu liegen? Mich in den Zug Richtung Ruhrgebiet setzen, um mich weiterzubilden. In Düsseldorf fand dieses Jahr im August zum zweiten Mal die ResearchEd Deutschland statt, eine Tagung die Lehrer zusammenbringt, um sich über die Entwicklung von Schule und Unterricht auszutauschen.
Ich möchte mich gleich am Anfang beim Team der St. George‘s British International School Düsseldorf Rhein-Ruhr und dabei insbesondere bei Daniel Rosen (der es irgendwie schaffte, immer und überall präsent zu sein) für die tolle Organisation des Events bedanken. Es ist nicht einfach, ein Programm auf die Beine zu stellen und ca. 150 Personen so professionell durch den Tag zu lotsen.
Was ist ResearchEd?
Das Besondere an ResearchEd ist der Anspruch, aktuelle Ergebnisse aus der Bildungsforschung mit der praktischen Arbeit in einer Schule in Einklang zu bringen. Meine Erfahrungen aus dem Studium waren da anders (dazu werde ich noch einen Extraartikel schreiben). Dazu kommen Lehrer zusammen und tauschen sich darüber aus, welche Forschungsergebnisse sich wie praktisch auf Unterricht und Schulentwicklung übertragen lassen. Dabei sind viele der Sprecher selbst Lehrer, die weiterhin unterrichten oder waren es zumindest für einen längeren Zeitraum. Man merkt schnell: Die Leute wissen, worüber sie reden. ResearchEd kommt ursprünglich aus Großbritannien, mittlerweile gibt es die Tagungen auch in den Niederlanden, den USA, Südafrika, Chile, Dubai, Italien, Kanada, Australien und Schweden. Deutschland kam letztes Jahr dazu, ich war dieses Jahr zum ersten Mal Teilnehmer.
Der Ansatz von ResearchEd ist herauszufinden, was in Schulen am besten funktioniert. Meiner Erfahrung nach ist dafür im Schulalltag wenig bis keine Zeit. Die Vorgaben und Empfehlungen der Bundesländer sind oft unpräzise und so arbeitet jede Schule, jeder Fachbereich und am Ende auch jede Lehrkraft oft eigenständig und versucht, das Rad neu zu erfinden. Dabei kommt nicht unbedingt das raus, was am besten wäre, sondern, was für die Lehrkraft und die jeweilige Klasse irgendwie funktioniert. Der Unterschied zwischen der Art und Weise der Vermittlung und manchmal sogar dem Inhalt zwischen zwei Klassen an der gleichen Schule kann so enorm sein. Claire Hill und Kat Howard erklären in ihrem Vortrag auf der ReserchEd, warum das ein Problem ist. Niemand sollte erwarten, dass eine Lehrkraft zusätzlich zu 26 Stunden Unterricht und den vielen weiteren Aufgaben noch aktuelle Ergebnisse der Bildungsforschung liest.
ResearchEd ist also eine Bewegung, Forschungsergebnisse zu finden, kritisch auf ihre Anwendbarkeit zu prüfen und dann auf eine einfache Art und Weise zur Verfügung zu stellen. Daraus sind viele Bücher entstanden, die sich zum Beispiel mit aktuellen Lerntheorien, einzelnen Fächern, allgemeiner Unterrichtsgestaltung, Unterrichtsstörungen und Schulkultur auseinandersetzen. Gut lesbar, relevant und hilfreich. Diese Diskussion, die auch schon vor ResearchEd entstand, hatte auch politischen Einfluss auf die Entwicklung des nationalen Curriculums in England, die englische Schulinspektion OFSTED und die Schaffung einer Stiftung zum Thema Förderung von schwachen Schülern, der Education Endowment Foundation. Die vielfältigen Reformen der letzten Jahre zeigen scheinbar ihre Wirkung, wenn man sich die englischen Ergebnisse von 2021 bei der PIRLS/IGLU-Studie zum Lesen im Grundschulalter ansieht.
Programm
Der Tag an der St. George‘s British International School Düsseldorf Rhein-Ruhr in Duisburg begann um 09.00 Uhr. Am Empfang gab es ein kleines Goodie-Bag mit einem tollen Planer und dann ging es nach kurzer Orientierung und Gesprächen zur ersten Session, einer Keynote mit Paul Kirschner zum Thema What has Educational Psychology ever Given Us? How Learning Happens. Paul Kirschner erklärte ziemlich grandios am Beispiel, wie er seiner Enkelin das Radfahren beibringt, warum erforschendes Lernen nicht immer die beste Art und Weise (man stelle sich eine komplizierte Kreuzung mit Autos und Ampeln vor) des Lernens ist.
Danach gab es die Möglichkeit, in vier Blöcken zu je 40 Minuten selbst Veranstaltungen auszuwählen. Ich habe folgende Sessions besucht:
Neil Almond - Comprehend This! Reading is Not a Skills-based Subject
Während meiner Ausbildung an der Universität war kompetenzorientiertes Lernen das große Credo. Schüler sollten nicht mehr Inhalte lernen, sondern sich Kompetenzen aneignen. Wenn man Lesen als Kompetenz betrachtet, die man im Deutschunterricht z.B. durch Techniken wie Fragen an den Text stellen, Zwischenüberschriften finden oder unbekannte Wörter suchen fördert, werden Schüler trotzdem nicht fachübergreifend besser im Leseverständnis. Unterricht, der sich auf diese fachübergreifenden Techniken konzentriert, ist nicht effektiv für schwache Leser. Hier sind gerade eine gute Unterstützung durch explizites Lernen von Fachvokabular, grammatischen Strukturen und Grundstrukturen von verschiedenen Textformen wichtig. Konkret sieht Leseförderung in Deutsch, Geografie und Physik sehr unterschiedlich aus und sollte auch in allen Fächern stattfinden. Die Kenntnis von Vokabular ist die dabei die zuverlässigste Art und Weise, Schüler zu fördern.
Claire Hill - The Science of Instructional Coaching
Die meisten Fortbildungen bringen langfristig gesehen nicht viel. Sie sind oft nur für einige Stunden – oder maximal einen Tag geplant – und es wird an zu vielen Punkten gleichzeitig gearbeitet. In den Punkten scheint sich die Realität an Schulen international zu gleichen. Instructional Coaching ist die Idee, Weiterbildungen durch kollegiale Hospitationen zu unterstützen und Schulentwicklung als einen Prozess zu sehen, der über einen längeren Zeitraum läuft und der nicht nach 90 Minuten Seminar wieder in Vergessenheit gerät, bevor das nächste Thema auf die Tagesordnung kommt.
Lekha Sharma - Building Culture in School Teams: Choices, Challenges and Complexities
Schulkultur ist ein schwer fassbarer Begriff. Die Aufgaben von Schulen, von Sprachförderung, über Inklusion, Berufsorientierung, emotionales und soziales Wohlbefinden von Schülern sind in den letzten Jahren vielfältiger geworden. Das erfordert viel mehr Kommunikation und Absprachen von Themen, an denen früher nicht gearbeitet wurde oder jeder im stillen Kämmerchen gewerkelt hat. Gleichzeitig ist das ein Bereich, der neuen Lehrern und pädagogischem Personal einen beruflichen Einstieg extrem schwerer machen kann. Die Idee, das bestimmte Werte vorgelebt werden müssen, es regelmäßige Feedbackschleifen gibt und die eigene Kultur regelmäßig kommuniziert wird, klingt sehr gut und wurde in der Session anhand von vielen kleinen Beispielen auf den Punkt gebracht. Definitiv ein Buch, was auf meine Leseliste wandert.
Claire Hill and Kat Howard - Curriculum: From Page to Practice
Katherine Howards Stop talking about wellbeing war eines der ersten Bücher, das in der Corona-Pandemie seinen Weg in mein Bücherregal fand. Die Autorin selbst kommt aus dem Finanzbereich und war überrascht, dass es in Schulen keine Entwicklungsplanung stattfand. Wo will man in sechs Monaten hin, wo in einem Jahr, wo will man in drei Jahren sein? Gerade für die Planung eines Curriculums ist das sehr wichtig, weil dort die zentralen Aufgaben der Schule innerhalb eines Faches festgehalten sind. Sie nennt kollaborative Planung des Unterrichts, eine Überprüfung des Gelernten außerhalb von Tests und die Anpassung des Unterrichts daran als wichtigste Schwerpunkte.
Zwischendurch gab es eine längere Pause mit Mittagessen, der Tag endete mit einer weiteren Keynote von Stuart Kimes (Education Endowment Foundation) zum Great Teaching Toolkit. Man stelle sich vor, es gäbe eine Gruppe von Menschen, deren Aufgabe es wäre, zu jedem Bereich der Schule Studien zu suchen, die Ergebnisse gut lesbar aufzuarbeiten und daraus die besten Empfehlungen abzuleiten. Genau das macht die EEF und man geht davon aus, dass über 80% der Schulen in Großbritannien diese Ergebnisse in ihre Entscheidungen einfließen lassen. Ich frage mich: Gibt es so eine Stelle in Deutschland? Die Ergebnisse haben zu einigen Diskussionen geführt. Differenzierung, also die Anpassung des Unterrichts an verschiedene Lernstände, wird aus Sicht der Forschung z.B. eher kritisch betrachtet, wenn sie dazu führt, dass nicht an alle die gleichen hohen Erwartungen gestellt werden.
Fazit
Ich bin sehr beeindruckt, welchen Umfang und Qualität das Programm hatte und wie professionell der Tag organisiert war. Gerade wenn man bedenkt, dass externe Besucher nur 25 Euro zahlten. Die Vorträge waren hilfreich für meine persönliche Entwicklung und es war auch gut zu sehen, den großen Enthusiasmus vieler Lehrer zu sehen, besser in ihrer Unterrichtspraxis zu werden. Ich würde mir wünschen, dass dieser Ansatz auch in Deutschland mehr ankommt: Forschung sagt uns nicht, was auf jeden Fall funktioniert. Aber Forschungsergebnisse können uns neben unseren Erfahrungen in der Schule und dem Kontext einer Einrichtung helfen, bessere Entscheidungen zum Wohl der Schüler zu treffen. Es gibt gerade international viele Ansätze, die man als Anregung nehmen kann, das Rad nicht jeden Tag zu erfinden und so aus der negativen Diskussion rund um Schule der letzten Jahre herauszukommen. Denn im Grunde genommen sind wir nach dem PISA-Schock vor über 20 Jahren nicht viel weitergekommen, gerade was die Förderung benachteiligter Schüler angeht. Vor allem der Bereich der kollegialen Zusammenarbeit war ein roter Faden, der sich durch die Veranstaltung zog und einen guten Startpunkt für eine bessere Schule von morgen bieten kann.
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